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Zwischen Wahnsinn und Erwartung - wie viel anders ist normal?

Vom Abschied, der Trauer und dem Sterben

Wir haben nur ein Leben. Wir müssen gut darauf aufpassen, dass weiß ich schon sehr lang.
Wir haben nur ein Leben, egal wie gut wir darauf aufpassen, irgendwann ist es vorbei.
Das hast du nicht getan. Ich weiß nicht, ob das mal anders war, aber in den letzten Jahren sicher nicht.

“Ich habe so viel über die bösen Auswirkungen von Rauchen, Trinken und Sex gelesen, dass ich beschlossen habe, im neuen Jahr mit dem Lesen aufzuhören.”

Das hast du erzählt und dabei gelacht.

Noch öfter hab ich nur diesen Ärzte-Witz gehört. Den, bei dem ein Arzt seinen Patienten fragt, warum er hundert Jahre alt werden will, ohne viel Sex, ohne Saufen, ohne Rauchen. Klar, jetzt hab ich die Pointe versaut. Aber darum geht es nicht.

Ich hab diese Witze tausend mal von dir gehört und ich musste immer wieder lachen. Wenigstens schmunzeln. Aber ein Bisschen war mir auch danach dich zu schütteln. Weil immer auch ein Bisschen Wahrheit mitschwang!

100 Jahre alt bist du nicht geworden. Und so richtig hab ich wohl noch nicht verstanden, dass du nie so alt werden solltest und vielleicht auch gar nicht wolltest. Krank warst du. Hustend und prustend mit Bauchschmerzen und Beinschmerzen.

Als ich schwanger war und Füße hatte wie zwei kleine Walbabys, hast du gelacht. Aber auch mitfühlend eine Schnute gezogen: “Kenn ich, meine Tabletten helfen mir da auch nicht mehr.” Aber du warst natürlich nicht schwanger.

Dein Wasser ging nicht mehr weg.

Wir haben uns darüber sogar unterhalten, nicht? Darüber, dass du nicht mehr so alt wirst. Dass du alles im Leben hattest, das du glücklich bist über das, was du fühlen durftest.

Über deine beiden Söhne und niemand spricht davon, ob sie biologisch sind: Denn mehr Vater hätte ihnen wohl niemand sein können, als du es gewesen bist. Und über die Frau, mit der du so viele Jahre deines Lebens verbracht hast.

Du hast es nicht immer leicht gehabt. Und dir zu leicht gemacht, mit deinem Leben. Wir haben ja nur eins. Und darauf müssen wir gut aufpassen. Und das hast du nicht getan.

Du warst nicht “viel zu jung”, aber eben auch nicht alt genug. Und deshalb ist es für mich nie ein Begriff gewesen, dass du irgendwann gehst.

Ich weiß gar nicht, hab ich dir gesagt, wie sehr ich dich schätze? Dass ich dich wirklich, wirklich mag?

Ach was, das wusstest du. Aber wusstest du auch, dass die Erinnerungen mit dir und deiner Familie auf dem Campingplatz, damals, im rot-blau-weiß-gestreiften Badeanzug mit Bratwürstchen und Joggen und dem See, zu meinen schönsten Sommer-Erinnerungen gehören?

Ich war ja nur so selten da. Woher sollt ihr wissen, wie wichtig ihr für mich seid?

Und ich kenne dich ja kaum. Ich kenne nicht dein Lieblingsessen, nicht die Lieblingsmarke beim Räucherwerk, nicht die Lieblingsfarbe.

Ich weiß, du hättest mich anders erzogen als meine Mama und mein Papa. Du bist nicht konform mit meinen Werten und Idealen. Und mein loses Mundwerk ging dir manchmal ganz schön gegen den Strich.

Aber ich weiß auch, zwischen “Werd’ mal nicht so frech” und “ne Backpfeife hätte dir aber auch mal gut getan”, hattest du mich auch ziemlich gern. So wie ich dich. Auch wenn wir uns das nicht so oft gesagt haben.
Wie oft ich die Staffellei rauskrame, die du mir geschenkt hast und deine Pinsel, deine Acrylfarbe, die du mir geschenkt hast. Weil du sie nicht mehr genutzt hast. Weil du froh warst, dass sie mir eine Freude bereiten. Ich denke jedes Mal an dich, wenn ich den Malkoffer heraushole. Nicht erst seit heute. Nicht erst, seit ich erfahren habe, dass wir uns nicht mehr sehen.

Ich war so stolz, jedes Mal, wenn dir einer meiner Texte gefiel. Du bist auch Familie für mich. Du und deine derben Witze, dein für mich so oft unverständliches Gemurmel, weil ich so hochdeutsch-verwöhnt bin.

Und jetzt bist du nicht mehr da. Einfach weg. Und die Hand voll Erinnerungen die ich habe, die sind zu wenig für mich. Ich wünschte, da wären mehr.
Ich hab dir nicht “Auf Wiedersehen” oder “Lebe Wohl” gesagt. Ich habe dich gesehen, dich gedrückt, und dann sind wir unserer Wege gegangen. Ich weiß nicht mal, wann zuletzt.
Und jetzt gibt es dich nicht mehr, nur noch in diesen Worten. Auf dem Foto in des Filou’s Familienalbum, weil du sein 30%-Opa bist.

In den Erinnerungen, in den Herzen, in der Musik, im Gefühl.
Und alle sagen “Es ist okay.” Aber sicher tut es allen ganz schön weh.

Du bist nicht jung gestorben. Aber du warst nicht alt genug!

Wir haben nur ein Leben. Darauf müssen wir aufpassen. Das hast du nicht! Ich wünschte mir, du hättest.
Und ich weiß so gut wie nichts über dich, ich kenne nur deine Familie, deinen Humor, deinen Geruch und dein zuletzt so trauriges Lächeln, in dem trotzdem immer Liebe lag.

Du hattest kein einfaches, aber sicher ein gutes Leben.
Vielleicht hast du immer so gut darauf aufgepasst, wie du konntest.
Ich hoffe, du hast deinen Frieden gemacht.

Nur, wie geht das, mit der Trauer?

Geweint hab’ ich noch nicht. Kann ich nicht so gut, weinen, wenn jemand geht. Hab viel zu früh gelernt, dass Menschen auch mal gehen. Dass es da keine Vorwarnung gibt. Nur der Gedanke, dass ich dich nicht mehr umarmen werde und mich nicht mehr ärgern kann, über unsere albernen Diskussionen, das tut ganz schön weh. Fühlt sich aber auch leer an. Es ist einfach ziemlich traurig, ziemlich blöd, dass du jetzt nicht mehr da bist.

Und ich glaube einfach nicht so richtig daran, dass danach noch was kommt. Weiß nicht, ob du das geglaubt hast. Ich glaube andere Sachen, halte alles für möglich und alles für unmöglich. Wenn es noch was gibt, wenn sich die Verstorbenen irgendwann alle treffen – dann grüß mal die von mir, die ich schon verloren hab. Und heb’ dir nen gewaltig blöden Witz für den Tag auf, an dem ich auch von hier fortgehe.

Ich schreibe lieber einen Text. Einen, der Gefühle malt. Einen, den die Leute lesen, die dich kannten. Und vielleicht auch ein paar, die dich nicht kannten. Die dann ein Tränchen aus ihrem Augenwinkel wischen, weil sie wissen, da ist ein geliebter Mensch gestorben.

Weißt du, ich habe meinen Geburtstag gefeiert. Anständig!

Ich habe erst danach erfahren, dass es dich nicht mehr gibt. Du hättest auch ganz doof geguckt, wenn ich deshalb nicht gefeiert hätte. “Mäusel das gehört zum Leben dazu”, hättest du gebrummt mit deinem Dialekt. Und ich hätte tausend Mal nachgefragt, bis ich dich verstanden hätte. “Trink’ einen für mich mit.” Hättest du gesagt, mich gedrückt und wärst dann trotzdem gegangen. Du bist ein mutiger Mann gewesen. Manchmal hast du ziemlich kluge Sachen gesagt. Manchmal auch nicht so kluge. Manchmal waren wir einer Meinung. Manchmal auch nicht.

In meinem Leben werde ich wohl noch häufig denken, dass du doch Recht hattest. Und dann werde ich mir wünschen, es dir sagen zu können. Dass du doch Recht hattest.

Ich wünschte, du hättest noch ein Bisschen mehr Zeit gehabt.
Nicht weil ich denke, dass es unfair ist, oder weil ich dir deine Ruhe nicht gönne: Sondern weil du mir jetzt gerade ziemlich fehlst. Weil ich mir wünsche, dich nochmal in den Arm zu nehmen und dir zu sagen, dass ich dich gern hab. Weil der Filou jetzt sicher deinen Namen sagen kann, aber du das noch gar nicht gehört hast!
Und ich weiß genau, dass du den Filou sehr gern hattest.

In dem Jahr, in dem der Filou noch unter meinem Herzen gewohnt hast, da hast du sehr viel für uns getan. Du warst immer zur Stelle – spontan oder geplant – du hast mich abgeholt und abgesetzt und du warst der erste, der erste in der Draußenwelt außer mir selbst, der dieses verzerrte-3D-Bild vom Filou ansehen durfte – der erste der schmunzelnd entdeckt hat, dass da auch die Nabelschnur drauf ist.

Darüber hab ich nie so richtig nachgedacht. Aber das sind so die Dinge, die einem dann einfallen. Jetzt, da du nicht mehr hier bist.

Heute Abend stoß ich auf dich an und bin froh darüber, dass du so lang in meinem Leben warst. Dass da ein Foto von dir in meinem Familienalbum klebt, in meinem eigenen, auf dem mein kleiner Sohn mit dir kuschelt. Eins, das ich ihm einmal zeigen kann. Eins, das mir hilft, ihm von dir zu erzählen.

Du bist nicht alt genug geworden. Aber vielleicht auch nicht zu jung gestorben. Du hast so gut auf dich aufgepasst, wie du konntest.

Wir werden dich trotzdem vermissen.

In Liebe
Kaddi

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