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Zwischen Wahnsinn und Erwartung - wie viel anders ist normal?

„Katharina, willst du noch ein Glas Apfelschorle?“

„Du weißt doch, wie Oma ist,“ sagt Papa zu mir, immer, wenn Oma so ist, wie sie ist. Ich nicke, jedes Mal, denn ich weiß doch, wie Oma ist.
Und trotzdem sitze ich jetzt hier und weiß gar nicht genau, was ich eigentlich schreiben soll.

„Wie machst du das denn immer?“ fragt Oma mich mit diesen neugierig hochgezogenen Augenbrauen. „Wo nimmst du denn immer diese Texte her?“

Und ich lächle bescheiden, aber stolz, und sage: „Ach, das … Na, die kommen einfach so. Ich setze mich hin, denke ein bisschen darüber nach, was ich schreiben will, und dann geht’s los!“

„Wie du das so kannst…“ sagt sie staunend. Das hat sie auch gesagt, wenn ich gemalt habe. Oder wenn ich blitzschnell eine Nachricht ins Handy getippt habe. Oder: „Was du alles weißt…“, wenn ich irgendwas über die Dinge erklärt habe, die im Kopf passieren.

Aber Oma, sag mal, wieso fällt mir denn jetzt nichts ein? Kein tiefschürfender Text, der dich und dein Leben in Worte kleidet, der dieses Gefühl von ruhiger Liebe, geradezu kindlicher Neugierde und ungekannter Sturheit beschreibt, das dich umgab, wenn wir beim Mittagstisch saßen –

Erst viele Jahre bei dir zu Hause, wo du uns genug zu essen auf die Teller fülltest, um das ganze Jahr satt zu sein – und später dann bei Papa und D.– wo Papa dir genug auffüllte, um ein ganzes Jahr satt zu sein. „Danke, danke, das reicht“, sagtest du mit geschürzten Lippen, milde lächelnd, und Papa hob den vollen Kartoffellöffel: „Da ist noch genug, nimm ruhig.“ Und ich lachte, wenn du protestiertest: „Nein, nein, ich hab genug!“

Vielleicht fällt es mir so schwer, die richtigen Worte zu finden, weil du gar nicht so gern im Mittelpunkt warst – du saßt lieber daneben und hast zugeguckt. Hast alles genau beobachtet. Und für deine Neugierde war dann Platz, sobald es eine ruhige Minute gab. „Aber nun erzähl mal, was ist denn das da jetzt mit deiner Arbeit?“ Und wenn ich anfing zu erzählen, sagtest du mir: „Jaja, das hat mir ja Doreen schon erzählt“, und fragtest nach etwas Neuem.

Oder vielleicht fehlen mir die Worte, weil du eben meine Oma warst.

Ich kenne dich, aber ich kenne dich eben als meine Oma, und als Tik-Tak-Oma meiner Kinder. Wann immer B. und ich über dich reden, erzählt er mir Sachen über dich, die ich nicht wusste. In so einem Menschenleben ist sehr viel Platz – und dann ist es plötzlich vorbei.

Ich bin und war deine Katharina – sonst bin ich sehr eitel mit meinem Namen – und die Jungs waren deine Prinzen. Deine Urenkelin wirst du jetzt gar nicht kennenlernen. Als mir das einfiel, habe ich das erste Mal geweint, und das zweite Mal, als Papa und Doreen zu Weihnachten schon wieder weggefahren waren und ich die Ente wieder aufwärmte – die Ente. Niemand hatte den Hals gegessen. „Ich nehme den Hals“, hast du gesagt, jedes Jahr. Das war deiner.

Da stand ich also, allein in der Küche, aß den Entenhals und weinte. „Davon kann ich mir auch nix kaufen“, hast du gesagt, wenn ich am Telefon „Hab dich lieb“ gesagt habe – und würdest du auch jetzt, wenn du diesen Text hören könntest. Und ihn dann vielleicht heimlich hören. Oder vielleicht würdest du ihn auch blöd finden, aber das ist doch die Sache mit der Trauer: Die ist für die Lebenden.

Und deshalb heulte ich das dritte Mal, als das Lied mit Namen „Katharina“ lief und mich aus dem Alltag zurück in die Trauer rief – und dann plötzlich dachte ich an all das. Und daran, dass ich dich viel öfter hätte anrufen müssen, auch wenn du mich am Telefon immer schnell wieder abgewimmelt hast. Und dass ich hätte da sein sollen, an deinem Geburtstag, mit den Jungs und mit dem Baby.

J. und A. vermissen dich ganz doll, soll ich dir sagen. Und dass es blöd ist, dass alle sterben müssen. Das ist unfair, findet J. Und A. möchte jetzt lieber von jedem ein Foto haben, falls jemand stirbt, eben.

Hey, ich will dir sagen: Es ist okay, oder? Du hast schon vor vielen Jahren gesagt, es ist okay, wenn du mal stirbst. Und da, wo du gelebt hast, wurdest du geliebt, so lange ich mich zurückerinnern kann.

Deine Tiktak-Enkel sind fest davon überzeugt, dass du jetzt im Himmel bist und auf uns aufpasst. Und vielleicht kannst du dir ja da etwas davon kaufen, Oma:
Wir haben dich lieb. Immer.

 

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