„Beim Frühstück stellen Sie sich den Anderen noch kurz vor.“ Ich nicke. Will fragen, wann das Früstück stattfindet. Den Rest des Raumes habe ich irgendwie wohl gerade ausgeblendet. Dissoziation oder normale Aufregung?
Der Frühstückstisch ist gedeckt, die Patienten sitzen am Tisch. Ich drehe mich um. „Bevor ihr anfangt zu essen, wir haben ein neues Gesicht!“ Ich kann nicht mehr fragen, wie viel ich erzählen darf. Nähe und Distanz. Ich kann nicht mehr überlegen, was ich sagen möchte.
Ich nenne meinen Nachnamen. „Ich bin im ersten Lehrjahr der Ausbildung zum Heilerziehungspfleger. Das ist mein erstes Praktikum in dieser Ausbildung, ich bin sehr gespannt, was wir voneinander lernen.“ Stille. „Guten Appetit“, murmelt ein Patient. Alle beginnen zu essen. Verheißungsvolle, wissende Blicke zwischen den Betreuern. Wir setzen uns zu den Patienten. Essen mit ihnen Frühstück.
September 2013
„Frau Sowieso, machen Sie sich keine Sorgen. Nachher beim Frühstück können Sie sich den anderen immer noch vorstellen.“ Ich schlucke schwer. „Wann ist das Frühstück?“ frage ich. „In einer halben Stunde. Sie sind auch dran mit Tischdienst“, sagt Herr Müller. „Sehen Sie, machen Sie sich nicht zu viele Gedanken. Wie alt sind Sie, warum sind Sie hier, wohnen Sie allein? Erzählen sie nur, was Sie erzählen wollen.“ Nähe und Distanz. Wie viel möchte ich erzählen? Die Zeit bis zum Frühstück zieht sich wie Kaugummi. Ich bin aufgeregt. Beim Aufdecken bin ich so zittrig, dass ich eine Tasse fallen lasse. Am Ende sitzen alle Patienten. Ich überlege, ob ich aufstehen muss. Ich merke, wie das Blut nicht mehr da ist, wo es hingehört. Mein Gehirn ist auch Kaugummi. „Das ist Czynia.“ stellt Herr Müller mich vor. Mehr nicht. „Guten Appetit!“ murmelt einer der Patienten. Alle beginnen zu essen. Ich bleibe sitzen. Senke den Blick und esse mit ihnen Frühstück.
Als nächstes steht die Visite auf dem Plan. Die Patienten sprechen kurz angebunden, mit gesenktem Blick. Voller Anspannung. Die Ärztin ist freundlich, aber bohrt. Harmlose Fragen. „Wie war das Wochenende? Haben Sie sich etwas Gutes getan?“ Schmerzhaft, wie ich weiß. Die Patienten lächeln. Gestikulieren unglücklich. Ich merke, wie die Anspannung sich überträgt, wie ich ihre Gefühle spiegele, mitreiße. ich möchte sagen „Lassen Sie sie doch in Ruhe!“ Die fremden Emotionen sind lauter als meine Aufregung. Zum Glück sage ich nichts. Lächle ermutigend. Meine Blicke bohren wie die der Ärztin, denke ich. Später im Aufenthaltsraum bin ich ebenso Pfleger wie Patient.
Pfleger, weil die Jugendlichen mich so ansehen, als wäre ich einer. Patient, weil ich mich frage wie ich in Beziehung gehen kann. Weil die Nervosität wie Blei über meiner Zunge liegt. Weil reden plötzlich nicht mehr einfach ist.
Ich erkenne Geschichten wieder. Schicksale, die ich so ähnlich schon einmal gehört habe. Unzufriedenheit mit der Station, mit den Ärzten, den Therapien. Die Patienten lästern übereinander. Ich höre zu. Muss lächeln. „Jeder hat seine eigene Baustelle“ möchte ich sagen. Meine Gedanken klingen wie Herr Müllers Stimme. Vielleicht lächle ich deshalb.
Am Ende des Tages weiß ich viel über die Jugendlichen. Habe ein Bild vom Tagesablauf. Noch etwas habe ich erfahren: Ich bin beides. Ich bin Patient und Pfleger. Irgendwie. Ich kann beide verstehen. Ich stehe auf beiden Seiten. Ich weiß, dass Separation keine Esstörungen heilt. Ich weiß aber auch, dass Esstörungen ansteckend sind. Dass es schlimm ist, sich destruktive Verhaltensweisen von Mitpatienten abzugucken, aber man es trotzdem tut. Ohne Absicht. Ohne Reflexion. Herrlich emotional. Die Amygdala ist stärker als das Kontrollzentrum. Die Jugendlichen sind noch nicht therapiert. Sie müssen erst herausfinden, was gut für sie ist. Warum destruktiv auch nicht „für mich nun mal richtig und der einzige Weg“ sondern nur das ist: Destruktiv. Ich weiß, dass die Pfleger Verantwortung für jeden Einzelnen tragen. Und dass die Esstörung längerfristig behandelt werden muss. Wenn das therapeutische Fundament gelegt ist.
Ich höre mich sachlich an. Kalt, als würde ich nicht verstehen, dass ein langer Spaziergang Depressionen nicht aufhält. Als wüsste ich nicht, wie sie sich anfühlt, die Leere im Kopf. Das Drama im Herzen wegen dem falsch ausgelesenen Therapiepass.
Dass die Probleme echt und groß und wichtig sind. Als würde ich glauben, eine Skillbox sei die Antwort auf alles. Ich will sagen „Ich verstehe dich, mir ging das damals auch so.“ Ich sage „Du musst es erst einmal probieren, bevor du weißt, ob es klappt oder nicht.“
Ich will sagen „Komm, wir gehen zusammen eine rauchen. Dann reden wir drüber.“ Aber ich sage „Wollen wir eine Runde Kartenspielen? Schreib das Thema auf, es ist etwas für ein Therapeutengespräch.“
Das kostet Kraft. Ich bin authentisch und nicht authentisch. Schrödingers Heilerziehungspfleger. Wie viel Kraft wird mich das kosten?
Am Nachmittag bin ich dem Filou entgegengerannt. Ich hatte schon lang nicht mehr so viel Kraft für Trotzanfälle und Diskussionen. Seine Welt ist noch einfach. Ich habe abgeschaltet. Das war leicht – viel leichter als ich dachte. Jetzt schläft der Filou – ich denke über die Arbeit nach. Oder viel mehr darüber, woran sie mich erinnert.
„Frau Sowieso, Sie müssen nicht mehr wiederkommen. Vielleicht suchen Sie sich einen ambulanten Therapeuten. Aber in den letzten drei Jahren ist bei Ihnen viel passiert. Ein neuer Therapeut würde Ihnen die Diagnose vielleicht gar nicht geben. Glauben Sie an sich, bleiben Sie ein Bisschen so, wie Sie sind. Entwickeln Sie sich trotzdem weiter. Ich glaube, aus Ihnen wird mal was Großes – mindestens im Herzen.“
Danke, Herr Müller. Danke, ihr Therapeuten.
Ich bin Heilerziehungspfleger in Ausbildung. Ein bisschen Aufregung ist ganz normal.
Gute Nacht!