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Zwischen Wahnsinn und Erwartung - wie viel anders ist normal?

Spuren aus dem Lebensloch

04.09.2013 – Auftakt der Therapie

Bücher brauchen einen Titel. Egal ob sie der Dokumentation dienen, Lexika werden, Gedichtbänder, Romane, Tagebücher – sie brauchen einen Titel. Jedes andere Buch das ein Gedankensammelsorium von mir speichern soll bekommt den Namen “Gedankentagebuch”, aber dieses nicht. Dieses muss viel mehr begreifen als nur meine Gedanken. Es soll jedes Gefühl, jedes Geschehen in sich aufsaugen, es wird Gedichte, Geschichten und böse Erlebnisse erfassen, es wird ein Spiegelbild von mir, verzerrt durch meine Worte, durch meine Situation nur noch verschärft – in diesem Buch wird man in ein paar Jahren Spuren von mir, in meinem ganzen Selbst, finden – Spuren aus der Lebenslücke, dem Loch, dass eine verlorene Liebe und der Verlust von mir selbst in dem ausgelöst und hinterlassen haben, was ich jetzt noch bin.
Ein Schatten von dem, was ich sein könnte, von dem, was ich sein will.
Ein depressives Häufchen Elend, gefangen in einem Meer aus Verachtung, Selbstzweifeln, Vorwürfen und Erwartungsdruck, in das ich mich selbst stürzte, um dem Leben, dass ich nicht zu haben glaubte, zu entfliehen.
Spuren aus dem Lebensloch, aus der Milchglaskugel, in die mich jemand gesperrt hat vor dem ich mich fürchte, weil ich glaube, ich kenne diese Person nicht einmal genau, bin ich doch eigentlich immer vor ihr weggelaufen – diesem heimtückischen, unauffälligen Wesen, das irgendwo im Hintergrund schon immer war. Meine Milchglaskugel ist vollkommen ungefährlich, sie ist eine sichere Kapsel in einem anderen Zeitfenster, einer anderen Welt würde ich fast sagen.

Sie schwebt an einem Fleck, penetrant, unabdinglich, dauernd – über einer furchtbar tiefen Schlucht, einem bodenlosen Abgrund, links und rechts nichts als gähnende Leere. Zehn Meter hinter mir der steile Abhang, den ich gerade heruntergerutscht und in einer viel zu leicht zu zerplatzenden Blase in mein sicheres Milchglasversteck geflogen bin. Zehn Meter vor mir scheinen ein paar Sonnenstrahlen auf irgendetwas, eine Welt, die mir vielleicht Halt bietet, in der ich mich sicher fühlen kann, leben kann – aber die Milchglaskugel hält mich fest, vielleicht erst seit einer Sekunde, vielleicht aber auch schon seit hundert Jahren.

Mit jedem Moment, der verstreicht, verliere ich mehr von meinem Lebensbewusstsein, ich verpasse mein Leben. Aber was ist das schon?
Mein Herz schlägt ja noch, ich lebe noch. Ich sehe die Welt nicht mehr, die Milchglaskugel bewegt sich nicht und eigentlich wünsche ich mir lange schon, einfach zu fallen, zu fallen, zu fallen! Alles, nur nicht länger leben in dieser Kugel aus undurchsichtigem Glas. Ich will fühlen, leben, lachen, weinen, wütend sein! Lieber wieder unsicher und einsam durch das Leben gehen, als isoliert, allein in einer anderen Dimension zu existieren. Lieber fallen oder zurückgehen und kaputt sein, als in dieser Kugel konstant nicht zu sein.

Aber meine Milchglaskugel ist sicher. Sie lässt mich nicht gehen und ich komme nicht heraus, niemals, nicht eine Sekunde. Abwechselnd versuche ich auszubrechen oder mich unsichtbar zu machen, ich zerkratze die Scheibe, schreie, weine – und liege dann verletzt auf dem unbequemen Grund und warte. Auf das Ende oder die erneute Kraft, sie zerstören zu wollen.

Und nebenbei, jetzt, da ich wieder einmal kämpfe, halte ich fest, was von mir übrig ist. Auf diesen Seiten, dem kostbaren Zuhörer, diesem wertvollen Papier. Diesem Partner, den ich habe, um meine Zeit hier in der Klinik zu überstehen und den Kampf gegen mich selbst zu einem friedlichen Ende zu bringen, um irgendwann denken zu können “Wie hat sich das angefühlt?” und mir Antworten geben kann.

Eines Tages.

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