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Zwischen Wahnsinn und Erwartung - wie viel anders ist normal?

Tausendundeingedanke zum Thema: Selbstmord

“Hatten Sie schon einmal Selbstmordgedanken?” Die Ärztin, die mit mir die Aufnahme machte, wirkte nur so mäßig interessiert. Diese Frage machte mich stutzig. “Pläne oder Gedanken?” Über diese Frage sollte ich, während meiner Zeit in Therapie, noch oft nachdenken.

Hatte ich. Definitiv. Gedanken.

Was wäre wenn? Wer wäre traurig? Kann ich das? Wie würde ich es anstellen?

Pläne definitiv nicht. Ich habe Gründe. An liebende Menschen, die mich vermissen würden, denke ich dann nicht. Kann ich gar nicht. Wenn es mir schlecht geht, fällt es mir schwer mich daran zu erinnern, dass es sie überhaupt gibt, diese Menschen, denen ich etwas bedeute.

2013 saß ich in der Klinik am Eingang. Es war mal wieder Zeit für eine stationäre Therapie.

Linus* kam mir entgegen. Wir hatten uns hier kennengelernt, waren einen kurzen Leidensweg zusammen gegangen und hatten ein paar ernste Konflikte. “Du lächelst einfach immer.” Sagte er geradeheraus. “Du willst dir bestimmt nie das Leben nehmen. Ich überlege mir schon wieder, wie ich es am Besten anstelle.” Ich lächelte einfach weiter. An solche Gespräche hatte ich mich schon gewöhnt.

Statt ihm aufbauende Worte zu schenken, lächelte ich also. Aufbauende Worte würden abprallen – ich kannte dieses Gefühl schließlich, auch wenn Linus mir das nicht an der Nasenspitze ansah.

“Ich kann mir das Leben nicht nehmen”, antwortete ich dann und meinte es so. “Ich kann mich dem Leben nehmen aber das Leben bleibt, wo es ist. Ich kann mir die Seele nehmen, das Wachsen und die Veränderung, die Bewegung, den Herzschlag: Aber das Leben bleibt. Die Leute erinnern sich und alle, die mich kennen, tragen dann meine Sorgen weiter. Nein, das Leben kann ich mir nicht nehmen.”

“Meine Sorgen würde niemand weiter tragen”. Linus klang nicht traurig, als er das sagte. Eher so, als hätte er sich das schon oft überlegt.

Ich frage mich heute oft, ob er damals verstanden hat, was ich meinte. Er hat sich vier Monate später aus einem Hochhaus fallen lassen. Im Ohr den Song “Mad World” in Dauerschleife.

Ich fühle ihn. Ich fühle, was ihn dazu bewegt hat. Ich begreife, dass es nichts mit Egoismus zu tun hatte, sondern dass er am Ende war. Keine Kraft übrig hatte, keine Hoffnung, keinen Halt. Das er es Leid war jeden Morgen schon beim Aufstehen mit der schwarzen Wolke aus Angst, Trauer, Wut und Leere aufzuwachen.

Und doch: ich trage seine Sorgen weiter. Wir kannten uns nicht gut. Wir standen uns nicht nahe. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich sogar Grund, ihn zu hassen: Nicht dafür, dass er sich umgebracht hat. Sondern für Dinge, die er mir vorher angetan hat. Aber davon möchte ich heute nicht schreiben.

Ich frage mich also, ob ich ausdrücken konnte, was ich sagen wollte. Linus hat sich nicht das Leben genommen. Er hat sich dem Leben, dem gewaltigsten und zerbrechlichstem Ding, das wir kennen, entrissen.

Das Leben ist immer noch da. Seine Stimme, seine Augen, seine Philosophie. Als wir uns kennen lernten war Sommer. Wir saßen gemeinsam unter einem Baum, es war heiß, wir hörten ‘Mad World’ und ich sah, wie eine verirrte Träne über seine Wange lief. “Ich halte das nicht aus,” sagte er unvermittelt. “Diese Gefühle, diese Traurigkeit, dieses Nichts. Und jetzt ist Sommer. Wie soll das nur werden, wenn der Winter kommt?”

Dass er im Frühling danach starb, zerreißt mir das Herz. Aber selbst diese Träne, die verirrte, sie ist noch da. Jedes Mal, wenn die Bäume ihre Blätter verlieren. Jedes Mal, wenn Mad World im Radio läuft. Jedes Mal, wenn die Bäume sich neue Blätter wachsen lassen. Sein ganzes Leben steht für immer im Raum. Ich trage die Geschichte durch die Welt. Manchmal traurig, manchmal mutig. Manchmal mit Schuldgefühlen, manchmal voller Wut.

Was hat er also getan? Er hat dafür gesorgt, dass sein Leben immer so bleibt. Unvollkommen. Er hat den roten Faden einer Geschichte durchtrennt.

Wann wird sein Leben wohl wieder gehen?

Wohl erst wenn in einigen Generationen niemand mehr seine Geschichte erzählt. Nicht ich, nicht seine Mutter, nicht seine Freunde, seine Verflossenen. Niemand, der ihn wie ich, “nur” aus der Klinik kannte.

Und ich? Mein Leben ist geprägt von Verlusten. Es steht ein Bisschen im Schatten eines Verlustes, der geschah, bevor ich geboren wurde. Und ein schlimmer Mord nahm mir meine beste Freundin, als ich selbst noch ein Kind war. Sie war damals sieben. In vier Monaten jährt sich auch ihr Tod. Inzwischen zum 14. Mal.

Aber auch ihr Leben steht im Raum. All die hätte’s, die könnte’s, die wäre’s. All das Wünschen, das Hoffen, das Träumen.

Ihr Leben steht neben mir seit ich ein Kind bin. Ich kann mir nicht das Leben nehmen. Die anderen müssten es für mich tragen.

Wie könnte Selbstmord die Antwort auf Selbstzweifel sein?

Ich muss mein Leben alleine tragen. Die anderen haben ja ihr eigenes. Und wenn es nur halb so schwer ist wie meins, dann ist es schon schwer genug.

Mit viel Liebe und etwas Angst, aber heute ohne Selbstzweifel im Bauch

Kaddi

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