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Zwischen Wahnsinn und Erwartung - wie viel anders ist normal?

Wer ich bin und wer ich sein wollte

Ich wollte jemand sein.
Mit fünfzehn wollte ich Gelassenheit lernen, nicht mehr so emotional auf alles reagieren. In einem meiner Tagebücher steht ich will „nicht mehr anspringen wie ein Moped“ und falls mein Bruder oder meine Mutter das hier lesen, werden sie lachen.

Ich springe immer noch an wie ein Moped. Nä-nä-nä-nä. Und meistens hab ich damit auch Recht.

Dann war jemand nämlich besonders sarkastisch oder ungerecht oder hielt sich für lustig, obwohl er verletzend war. Das ist Humor in meiner Familie und das ist okay so. Ist aber auch okay, dass ich das oft überhaupt nicht lustig finde.

Also, jetzt nehme ich mal wieder die Pointe schon am Anfang weg. Ich wollte nämlich jemand sein. Nur eben nicht mehr ich.

Damals hatte ich einen Freund, in den ich „so verliebt wie noch nie zu vor“ gewesen bin. Wirklich, das steht auch in meinem Tagebuch. Wenn die Geschichten daraus nicht so haarsträubend ernst wären, könnte ich bestimmt lustige Comedy-Programme daraus schreiben. Vielleicht aber auch lieber nicht.

Denn in dem Tagebuch nehme ich mich schon selbst nicht mehr ernst. Als fünfzehnjährige fand ich schon albern, wie übertrieben sich das alles anfühlt und habe in jedem zweiten Satz versucht, meine eigenen Gefühle zu relativieren.

Mein Ziel damals war, weniger zu fühlen, tauber zu werden. Nun ja, außerdem wollte ich Grundschullehrerin werden und das Kind meines Freundes großziehen und mit 21 dann selbst Mutter werden, natürlich mit ihm zusammen, also quasi sein zweites Kind bekommen.

Zumindest das mit dem Mutter werden hab ich hinbekommen.

Allerdings bin ich auch nicht die Mutter, die ich werden wollte. Ich wollte geduldig sein, ich war mir sicher, ich wäre dann schon erwachsen genug für gesunde Ernährung und ich hätte nie gedacht, dass in meinem Haushalt mal Trickfilme laufen. Ich wollte niemals schreien, denn ich fand schrecklich, wenn andere Mütter schrien, das musste nicht mal meine sein.

Ich wollte irgendwas zwischen laissez-faire und Bodenständigkeit ausstrahlen, so richtig volles Programm eben. Vom Stillen und dem Familienbett und diesem ganzen Gedöns hatte ich mit fünfzehn natürlich noch keine Ahnung. Aber ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie es nicht laufen sollte.

Und, es tut mir Leid, kleine Rebellin von vor neun Jahren, aber ziemlich viel läuft hier genau so, wie du das nicht wolltest. Nicht alles davon finde ich gut. Aber ich erzähl dir mal was!

Liebe 15-jährige Kaddi,

Du steckst voller Herzschmerz, du glaubst, dein Freund ist der einzige Mann, den du jemals lieben kannst. Du glaubst, du darfst dich nicht schlecht fühlen, wenn er stundenlang von seiner Ex-Freundin spricht und dir in den Schoß weint, weil er kein Kondom benutzen konnte.

Du bedauerst seine Ex-Freundin, möchtest für sie da sein, sie trösten, nachdem sie dir ins Gesicht geschlagen hat – du hältst es für eine gute Idee bei deinem inzwischen fast volljährigen Freund zu Hause zu sitzen und Händchen zu halten, statt zur Schule zu gehen.

Du reflektierst dich im Kreis und das im zarten Alter von fünfzehn Jahren! Und das nur, weil dich und deine Gefühle gerade keiner so ganz ernst nimmt.

Nimm es mir nicht übel, wenn ich den Kurs ändere.

Wenn ich wütend bin, dann schreie ich. Und dann kann ich mich entschuldigen, aber besser schreie ich, als das ich mir selbst weh tue. Das heißt leider, manchmal schreie ich dann sogar meinen Filou an. Aber auch bei ihm entschuldige ich mich dann. Ich denke, du wärst meiner Meinung, wenn ich dir sage, dass eine authentische Mutter besser ist als eine, die ihrem Kind eine heile Welt vorgaukelt. Immerhin haben wir beide doch recht früh erfahren, dass es diese heile Welt gar nicht gibt, nicht wahr?

Weißt du, ich mache Pausen, wenn ich erschöpft bin, selbst dann, wenn ich eine tolle Idee habe oder in etwas besonders gut sein möchte. Ich bleibe nicht Nächtelang wach. Ich versuche nicht jemandem zu gefallen. Ja, manchmal rasiere ich mich nicht einmal, bevor ich meinen Freund treffe.

Ich opfere mich nicht mehr auf, für meine Freunde. Ich höre ihnen zu und ich bin für sie da, aber ich habe diesen Satz vom richtigen Verhalten bei einem Flugzeugabsturz irgendwann verstanden. Man muss schon auch auf sich selbst aufpassen.

Das was du jeden Tag tust, liebe Teeniekaddi, das erfordert Kraft. Es ist schade, dass Niemand um dich herum das sieht und anerkennt und dir sagt. Dass du immer wieder denkst, du bist nicht gut genug und müsstest besser sein.

Liebes rebellisches Teenager-Ich.

Ich sehe dich in deinem Leid und in deinen Idealen. Und viele davon trage ich heute noch fest in meinem Herzen. Aber ich wünsche mir sehr für dich, und all deine Leidensgenossen die heute noch da draußen und immer noch fünfzehn sind, egal ob im Kopf oder auch physisch: Lasst euch doch sein, wie ihr seid. Ihr dürft euch doch so fühlen. Und euch total ernst dabei nehmen.

Ihr werdet aus dieser egomanischen Phase schon von allein rauswachsen, ihr müsst euch da nicht schubsen.

Liebe Kaddi von vor neun Jahren, es ist okay für mich, dass du mit meinem Weg heute nicht einverstanden wärest. Aber ich nehme mich heute doch lieber ernst. Ich denke, ich sollte mich dringend wertschätzen und gern haben, denn das ist es, was meine Söhne dringend von mir lernen sollen. Sich selbst und ihre Mitmenschen wertschätzen, nicht nur für ihre Leistungen, sondern für ihr Sein.

Es ist so, dass ich schon verstehe, dass du jemand sein willst. Jemand der geduldig ist und liebevoll und nicht so emotional. Strukturiert und ordentlich mit wasserfesten Zielen. Stilsicher und natürlich geschminkt.

Aber weißt du, du bist kunterbunt und laut und stürmisch. Du bist impulsiv und mutig und leidenschaftlich. Lösungsorientiert stürmst du alle Baustellen und reißt die Menschen mit etwas zu tun, wozu ihnen eigentlich der Mut fehlt.

Du fasst Vertrauen in die Menschen, immer wieder, obwohl du tausend Mal enttäuscht wurdest. Du bist so mutig!

Du kannst schon geduldig sein und strukturiert.

Aber wer ist dann das, was du heute schon bist?

Mit Liebe

Kaddi

PS: Ich hatte mal einen Religionslehrer, der hat mir dann und wann immer mal einen Schubs in die richtige Richtung gegeben. Weiß nicht, ob der mal hierüber stolpert, aber als gerade alles in meinem Leben nach Veränderung roch, da hat er mir ein Gedicht mitgegeben:

Mut von Martin Walser

Mut gibt es gar nicht.
Sobald man überlegt,
wo man ist,
ist man schon an einem bestimmten Punkt.

Man muss nur den nächsten Schritt tun.
Mehr als den nächsten Schritt
kann man überhaupt nicht tun.

Wer behauptet, er wisse den übernächsten Schritt, lügt.
So einem ist auf jeden Fall mit Vorsicht zu begegnen.

Aber wer den nächsten Schritt nicht tut,
obwohl er sieht,
dass er ihn tun könnte, tun müsste,
der ist feig.

Der nächste Schritt ist nämlich immer fällig.
Der nächste Schritt ist nämlich nie ein großes Problem.
Man weiß ihn genau.

Eine andere Sache ist, dass er gefährlich werden kann.
Nicht sehr gefährlich.
Aber ein bisschen gefährlich kann auch der fällige nächste Schritt werden.

Aber wenn du ihn tust, wirst du dadurch,
dass du erlebst, wie du ihn dir zugetraut hast,
auch Mut gewinnen.

Während du ihn tust,
brichst du nicht zusammen,
sondern fühlst dich gestärkt.
Gerade das Erlebnis,
dass du einen Schritt tust,
den du dir nicht zugetraut hast,
gibt dir ein Gefühl von Stärke.

Es gibt nicht nur die Gefahr,
dass du zuviel riskierst,
es gibt auch die Gefahr,
dass du zu wenig riskierst.

Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.

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